Über Verschwörungserzählungen

Über Verschwörungs- erzählungen

Wo hört kritisches Denken auf und wo beginnen Verschwörungstheorien?

Wir alle sind oder werden manchmal Opfer von Falschmeldungen, fehlerhaften Interpretationen oder Wahrnehmungsverzerrungen.

Ein einfaches Beispiel dafür ist der Halo-Effekt, nach dem man von bekannten Eigenschaften einer Person auf Unbekannte schließt (“Er arbeitet bei einem Autozulieferer, dann liebt er sicher Autofahren und ist kein leidenschaftlicher Radfahrer”).

Oder der Scheinwahrheitseffekt, nach dem einem eine Aussage, die man schon öfter gehört hat, glaubhafter vorkommt als eine neue Info – und zwar ganz unabhängig davon, wie wahr sie ist (“Ich habe schon öfter gehört, dass Sternzeichen etwas über Menschen aussagen, daher muss da wohl etwas dran sein.”).

Wahrnehmungsverzerrungen sind also menschlich und gehören zu unserem Leben dazu – auch deshalb ist niemand davor geschützt, an Verschwörungserzählungen zu glauben. Wir alle haben ein Bedürfnis nach Bindung, Selbstwert, Freude und Kontrolle.

Geraten diese Dinge ins Wanken, zum Beispiel durch eine weltweite Pandemie, einen Jobverlust oder eine Trennung, oder aber fühlen wir uns ohnehin in der Gesellschaft ungerecht behandelt, dann kann es passieren, dass wir versuchen, Antworten zu finden. Wir verbinden zufällige Punkte zu Mustern und gewinnen so vermeintlich die Kontrolle zurück.

Dabei ist man noch kein:e Verschwörungstheoretiker:in, wenn man über die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen diskutiert oder Angst vor der Impfung hat. So ist Kritik am kapitalistischen System, dem Gesundheitssektor oder Globalisierungstendenzen völlig legitim – solche Skepsis und das Zweifeln sind für eine Gesellschaft sogar sehr wichtig.

Und gleichzeitig gibt es Grenzen, und zwar dort, wo kritisches Denken zu Glauben verkommt. Wenn aus Vermutungen und Zweifeln, Überzeugungen werden: Wenn Verschwörungsgläubige die Antwort kennen, bevor die Frage gestellt wurde.

CALLSPIRACY treibt der Wunsch nach Differenzierung an. Die Sendung befasst sich also statt mit Verschwörungsgläubigen mit ihren Angehörigen und startet damit als Format den bislang einzigartigen Versuch, die Debatte weg von absurd inszenierten Demo-Teilnehmer:innen oder berühmten Einzelpersonen hin zum Verständnis eines gesellschaftlichen Phänomens zu bringen.

Die Sendung möchte sich diesem Phänomen durch gemeinsames Reden und Empathie annehmen, ohne demokratische Werte zu verleumden – indem antisemitische oder rassistische Tendenzen unbenannt bleiben, die Gefahren, die von Teilen der Verschwörungsgläubigen ausgeht, heruntergespielt oder Opfer in ihrer Gefährdungslage nicht ernst genommen werden.

CALLSPIRACY geht es vielmehr um den demokratischen Dialog mit all jenen, die für diesen offen sind. Denn letztlich ist das doch die Gemeinsamkeit: Die meisten von uns wollen miteinander sprechen.

Was sind typische argumentative Tricks von Verschwörungsgläubigen?

Was sind typische argumentative Tricks von Verschwörungs- gläubigen?

  • Suggestivfragen: Unterstellungen, die als Fragen getarnt sind
  • Qui Bono / Wer profitiert? Kausalkette wird so gestaltet, dass derjenige, dem es nützt, zwangsläufig schuld sein muss
  • Einfache und übertriebene Feindbilder
  • Schwarz-Weiß-Weltbild: Die Teilung der Welt in Gute und Böse, in David gegen Goliath
  • Angstrhetorik
  • Hauptsache, gegen den Strom schwimmen: Der rote Faden der Argumente ist oft “einfach” nur das Widerstreben vom “Mainstream”
  • Pseudowissenschaft: Anekdotische Erzählungen statt Empirie, vermeintliche Expert:innen und veraltete Quellen
  • Umgang mit Kritik: Oft abwertend oder beleidigend, Faktenchecks werden z.B. als Propaganda abgetan, ohne auf Gegenargumente einzugehen, die gesunde Skepsis, die viele Verschwörungsgläubige fordern, setzen sie bei sich selbst nicht um
  • Immunisierungsstrategie: “Medien, Politik und Wissenschaft sind eh alles Komplizen” oder die Behauptung, das seien alles Fake News. Ein Totschlagargument, das sich gegen Kritik immunisiert und weitere Diskussionen unmöglich macht
  • Historisch reale Verschwörungen als Scheinargumente: Zum Beispiel NSA oder Watergate-Skandal, aber: Hier haben Journalist:innen recherchiert und tatsächlich Beweise vorgelegt
  • Vermischen von Fakten und Erfundenem: Beispielsweise durch den falschen Kontext von Zitaten und Fotos

Übrigens: Es ist ein Irrglaube, Verschwörungsgläubige wären (z.B. seit der Pandemie) mehr geworden. Sie sind nur sichtbarer geworden.

So gibt es sie nicht erst seit dem Internet oder seit Corona: Verschwörungserzählungen gibt es schon seit Jahrhunderten, und teilweise waren sie sogar populärer und viel mehr verbreitet in der Gesellschaft (z.B. im Nationalsozialismus).

Lange Zeit galten Verschwörungserzählungen vielfach sogar als legitimes Wissen, das von Politikern geteilt wurde. Das Problem ist also nicht größer geworden, im Sinne, dass es mehr Verschwörungsgläubige gibt, sondern es ist dadurch, dass die meisten eben nicht mehr daran glauben, sichtbarer geworden und wird eher zum Streitthema.

Hinzu kommt, dass die Thematik durch die Pandemie nun in sämtliche Lebensbereiche der Menschen eingreift und sich daher viele der Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, nun gezwungen sehen, sich zu äußern.

Dennoch ist die Verbreitung von Verschwörungsmythen durch das Internet maßgeblich vereinfacht und die Wege der Radikalisierung sind gewissermaßen algorithmisiert worden – z.B. auf YouTube.

Tipps zum Umgang mit Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben

Das Ziel, Verschwörungsgläubige mal eben zu überzeugen, ist oft zum Scheitern verurteilt.

Vielmehr sollte man versuchen, sie von einem Nicht-Wahrhaben-Wollen und einer Abwehrhaltung in einen Status zu bringen, in dem sie Ambivalenzen erkennen und Zweifel an ihrer Weltanschauung wecken. Diesen können sie nun selbst nachgehen, ohne ihr Gesicht zu verlieren und sich angegriffen zu fühlen.

Leider braucht dies Zeit und Geduld, und es gibt auch kein Patentrezept. Aber die gute Nachricht ist: Das direkte Umfeld hat den größten Einfluss. Wichtig ist daher ein frühestmögliches Intervenieren, da Betroffene sonst immer weiter im Kaninchenbau verschwinden und Schweigen als Zustimmung gewertet wird.

Wichtig für das Vieraugengespräch sind folgende 11 Tipps:

1. Positiver Gesprächseinstieg: z.B. durch das Betonen von Gemeinsamkeiten und guten Absichten.

2. Ausmaß verstehen: Wie schlimm ist es, woran glaubt der andere und welche konkreten Quellen werden genutzt? Ist Vertrauen in Medien und Wissenschaft noch da? In welche Medien z.B.?

3. Sandwich-Methode: Mit unplausibelster Falschmeldung starten und diese dabei nicht wiederholen (Scheinwahrheitseffekt). Das eigene Argument als “Sandwich” aufbauen:

a. Fakten
b. Warnung vor dem Irrglauben
c. Trugschluss erklären
c. Fakten

Im Zweifel die Diskussion lieber vertagen und Infos oder Faktenchecks einholen.

4. Fragen statt Antworten: Man sollte hier vor allem Zweifel äußern, statt mit Argumenten um sich zu werfen. Bei Pauschalisierungen z.B. reingrätschen und fragen:

Wie viele Menschen müssten dann Mitwisser:innen sein?
Haben sie alle das gleiche Interesse?
Ergibt das Sinn?
Warum sollte das so sein?
Wenn das wahr wäre, wie funktioniert das konkret?
Wie viele Menschen müssten Mitwisser:innen sein?
Ist das realistisch?
Was sollen die davon haben?
Warum glaubst du das?
Was würde dich vom Gegenteil überzeugen?
“Tut es dir gut, dich damit zu beschäftigen”?

Fragen statt Antworten signalisieren dem Gegenüber Interesse und sind nicht konfrontativ.

5. Weltbild statt Details: Eher wenige und dafür gut überlegte Argumente anbringen, die dann begründete Zweifel an der Verschwörungserzählung bzw. dem Weltbild säen. Sich nicht in Details verlieren und von Hölzchen auf Stöckchen kommen lassen, sondern bei einem Punkt bleiben.

6. Quellen hinterfragen: Zum Beispiel: “Ich finde es auch wichtig, selbst zu denken. Das schätze ich auch an dir. Aber jetzt erscheint es mir, dass du hier etwas aus einer Quelle übernimmst. Hast du mal kritisch nachgeprüft – z.B. mit Faktenchecker –, ob finanzielle oder politische Interessen dahinterstecken? Oder ob die Person die Expertise dazu hat?” Gegebenenfalls gemeinsam einen Faktenchecker ansehen

7. Gesunde Impulse: Ruhig bleiben, nicht rechthaberisch, besserwisserisch oder abwertend (“dumm”, “verrückt”, Verschwörungstheoretiker”) sprechen. Sich selbst fragen: Wann und wie hat mich mal jemand überzeugt, meine Meinung zu überdenken?

8. Bedürfnisse ergründen: Wir alle haben psychologische Grundbedürfnisse nach:

a. Kontrolle und Autonomie
b. Selbstwert
c. Unlustvermeidung/Lustgewinn
d. Nähe/Bindung

Verschwörungserzählungen docken hier an und erfüllen diese Bedürfnisse vermeintlich. Daher sollte man fragen: Welches Grundbedürfnis steckt bei meinem Gegenüber dahinter? Wie geht es ihm eigentlich gerade? Und was kann der- oder diejenige stattdessen machen, um das Bedürfnis besser zu erfüllen (Ersatzrealität)?

9. Fokus verschieben: Erfüllen der Grundbedürfnisse, um die Fixierung vom Thema weg zu nehmen. Z.B. durch Erweiterung des Freundeskreises, Hobbys, Engagements, gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen. Durch das Delegieren von Entscheidungen im Alltag kann auch die Selbstwirksamkeit der Verschwörungsgläubigen gestärkt werden.

10. Widersprechen und Grenzen setzen: Gerade bei antisemitischen/rassistischen Ideologien von enormer Wichtigkeit. Gleichzeitig sollte man allgemein Gesprächsbereitschaft signalisieren.

11. Zeitrahmen setzen: Manchmal braucht es Zeit, bis Menschen Infos verdaut haben. Daher lohnt es sich, am zu Ball bleiben und lieber zu pausieren, wenn das Gespräch eskaliert. Auch sollte man immer die eigene emotionale Belastung im Blick haben und diese kommunizieren. Und es ist wichtig, Brücken aufrecht zu erhalten oder zu bauen für den Fall, dass die Person “zurückkommt”.